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Home Bombenangriffe in Kiel (Jan. 1944) 5.1.1944: Zerstörungen in der Universität 7.1.1944: Aufräumungsarbeiten
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 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Tagebüchern
 Bombenangriffe in Kiel (Jan. 1944)

6.1.1944: Weitere Bombenangriffe; Querelen

2 Uhr früh Alarm. Es dauerte über 10 Minuten, bis die drei zum Abmarsch fertig waren. Ich leuchtete ihnen die Treppen hinunter, die Haustüre war schon offen. Dann die drei Treppen wieder hinauf. Ich hoffe, daß es nichts sein wird; denn ich hatte das beabsichtigte Umpacken bis zum Tageslicht verschoben.

Ich wurde von Ingo in den Keller geholt, auf einiges Schießen hin. Ich ging nur mit, weil er mir den Koffer hinunter (und später wieder hinauf) trug. Der neue Feuerschein scheint lediglich ein in dem starken Wind aufflackernder Brand zu sein. 2.55 Uhr Entwarnung. Mit Herzklopfen die Treppen hinauf. Fünf Minuten darauf wieder Alarm. Ich brachte mein Gepäck ein Stockwerk tiefer und legte mich dann in meinem Zimmer hin, um auszuruhen. Der Sturm hat die Pappdeckel an den Fenstern gelockert, es bläst und rüttelt in den Zimmern. Ich sehe drei Feuerscheine am Himmel. In einigen Stadtteilen muß es schlimm sein. Wo sind die Tausende der Obdachlosen hingekommen? 3.15 Uhr Entwarnung. Bis 3.25 Uhr ertönen Sirenen verschiedener Art, wohl mit der Hand betrieben (da es ja keinen Strom gibt; das ist auch so ein Unsicherheitsfaktor, man glaubt jedem Alarmgerücht leichter, wenn man weiß, daß die richtigen Sirenen nicht gehen). Fast vermutet man neuen Alarm, weil die Entwarnung so ungewohnt lang anhält. Auf der Straße hört man die Schritte vieler Heimgehenden, die drei sind spät gekommen.

Um 5 Uhr kam Lore, weil die Pappstücke und Fenster in ihrem Zimmer so schlugen, daß sie nicht schlafen konnte. Sie wurde in das Speisezimmer umgebettet. Um 5.15 Uhr Luftwarnung. Wir hörten die Leute zum Bunker trappen, blieben aber, ziemlich angezogen, in den Betten. Dann kam auch bald wieder Entwarnung. Von Schlafen war wenig die Rede, der Sturm blies die ganze Nacht hindurch heftig, ich hatte auch dauernd Herzklopfen. Wir rechneten auch alle mit einem neuen Angriff. Durch das viele Gerede der Leute über die Wirkung großer Phosphorangriffe war ich doch allmählich nervös geworden. Ich sagte mir zwar immer, daß wir in dieser Jahreszeit und in unserem Stadtteil mit den vielen Gärten und fast nur Einzelhäusern nicht das zu befürchten hatten, was in der Hochsommerhitze in den engen Altstadtstraßen von Hamburg sich zugetragen hat. Aber es könnte ja mit technisch noch wirksameren Mitteln als damals in Hamburg kommen. Zum erstenmal begann ich zu zweifeln, ob wir überhaupt mit dem Leben davonkommen wurden.

Gegen 8 Uhr, als wir beim Frühstück saßen, ertönten in der Ferne unbestimmte Sirenenzeichen. Ich hatte Blutdruck 230 mm gemessen und erwog, mir einen Aderlaß machen zu lassen, um die nächsten Tage durchzuhalten. Immer wieder diese Sirenentöne, jetzt sind es aber zweifellos Entwarnungszeichen. Die Leute sind ganz verstört; Frau S. sah ich vorhin auf die ersten Töne hin mit ihrem Kinderwagen zum Bunker fahren. Von der Straße wird heraufgerufen, daß kein Alarm sei. Aber man hört den fernen Ton sogar deutlich auf- und abschwellen. Es scheint eine in Reparatur befindliche Sirene zu sein. Von allen Seiten hört man Dachschiefer fallen, infolge des Sturmes. Käthe war vergebens fort, es gibt weder Brot noch Milch.

In der Medizinischen Klinik wurde ich nicht angenommen. Obwohl kein direkter Bombenschaden eingetreten war, sieht es recht ungemütlich dort aus: keine Fenster, ausgerissene Türrahmen, offenstehende Schränke, Glassplitter. Im Kellergeschoß steht die ganze Länge des Baues hindurch das Wasser, sodaß vor allem der gesamte Küchenbetrieb lahmgelegt ist. Es wird infolge der Zerstörung der Kanalisation in der höher gelegenen Lornssenstraße eingedrungen sein. Sie können nicht einmal eine Spritze auskochen, da weder Wasser noch Gas vorhanden ist. Sie schicken die Leute in die Chirurgische Klinik hinüber.

Man sieht jetzt am Vormittag die Leute familienweise in den Bunker ziehen. Käthe arbeitet in der Wohnung. Das Gas brennt wieder, wenn auch ganz schwach.

In einer Sitzung am Nachmittag erfuhr ich, daß die großen Bombentrichter in der direkten Nähe der Klinik eine Stauung in der Kanalisation verursacht haben. Das stehende Wasser im Kellergeschoß ist mit Fäkalien vermischt und muß ausgepumpt werden. Für 14 Uhr war ich zu einer Sitzung in der Anatomie bestellt. Ich durchwanderte die kalten Räume, im ganzen Haus war keine Seele. In der Universität erfuhr ich, daß es in dem Brief 16 Uhr hätte heißen sollen. Wieder zwei Stunden verloren. Ich sah mir das physikalische Institut an: direkt daran zwei riesige Sprengtrichter, alle Fenster samt Rahmen sind weg. In der Dahlmannstraße ein Volltreffer, in der Brunswikerstraße reihenweise die Häuser demoliert, oft hält man sie nur für durchgeblasen und sieht von vorn gar nicht, daß die ganze Rückseite aufgerissen ist. Das Matrosencafe gegenüber der Universitäts-Bibliothek ist durch Volltreffer zerstört, ebenso das zweite Haus des Möbelgeschäftes Christen. Das Haus, in dessen Erdgeschoß sich der "Mittagstisch Lenz" befand, wo ich ein Jahr lang mit H. gegessen habe, starrt tot aus leeren Fensterhöhlen. Daneben die Buchhandlung Lipsius und Tischer völlig zerstört. Weiter bis zum Hotel Holst scheint es notdürftig in Ordnung zu sein (von den Rückseiten kann ich nichts aussagen), aber dann. Zunächst links wieder riesige Trichter im Schloßgarten. Der dortige Splitterschutzgraben ist, wo Sprengtrichter in seiner Nähe sind, völlig überdeckt von der ausgeworfenen Erde oder zusammengepreßt. Das Schloß ohne Dach, ausgebrannt, von manchen Teilen nur noch einzelne Mauern stehend. Rechts bis zum Beginn der Dänischen Straße alle Häuser entweder heruntergebrannt oder in Schutthaufen zerschlagen. In der Universität waren nur die beiden im Sekretariat angestellten Frauen anwesend, sie räumten auf. Sonst alles totenstill in den zugigen Räumen.

Ich weiß nicht, ob es an diesem Nachmittag war, daß ich einen Zusammenstoß mit dem Herrn "Studentenführer" hatte. Wozu diese arroganten Maulhelden eigentlich da sind, habe ich bis heute nicht begriffen. Der jetzige ist ein Bursche, der nie was gearbeitet, kein Examen gemacht hat, aber bereits von Habilitation redet. Leider gibt es ja Kollegen, die aus Angst und Feigheit solchen Kerlen Vorschub leisten und ihnen womöglich den Doktortitel nachwerfen. Die Studentenführung hat vier Büroräume im Souterrain und beschäftigt sieben Hilfskräfte. Nachdem diese Räume Ofenheizung haben und die Fenster fast nur Glasschaden aufweisen, konnte dort am leichtesten eine Arbeitsmöglichkeit geschaffen werden, und deswegen hatte der Rektor bestimmt, daß diese Räume zunächst dem Sekretariat zur Verfügung gestellt werden sollten. Das ergab eine Reiberei, die ich, der ich momentan im Hauptgebäude den stellvertretenden Hausherrn machen sollte, mit ausbaden mußte. Ich kam mit M. hinunter, um die Sache zu besprechen, wurde aber von dem Kerl zunächst so angeschrien, daß ich mir diesen Ton energisch verbitten mußte. Ich hatte ihn nie vorher gesehen und er kannte mich auch nicht. Er hatte ein Organ, daß die Wände wackelten, wahrscheinlich seine einzige Qualität, ich behielt einen ruhigen Ton, weil ich ihn doch nicht überschreien konnte, aber in diesen Kreisen behält immer der größere Schreier Recht. Ich verließ mit den Worten, daß ich mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle, ohne Gruß das Lokal; was hätte ich ohne Kanone gegen den Kerl machen können? Der Rektor ist dann umgefallen, wahrscheinlich hat er auch Scheißangst vor dem Kerl, und die Studentenführung behielt drei Zimmer. Das eine bekam ich als Amtszimmer. Das hat sich jedenfalls vor der Sitzung um 16 Uhr abgespielt. In dieser Sitzung, der der Herr Kurator (ein reines Parteigeschöpf) präsidierte und den Rektor kaum zu Wort kommen ließ, war auch der Herr Studentenführer anwesend, wurde vom Kurator stets mit "Herr Parteigenosse" angeredet (als ob wir anderen das nicht auch wären) und in seinen Bemerkungen unterstützt. Diese Herrn sind eben eine innere Clique oder wie man es sonst ausdrücken soll, für welche die Professoren nur ein unwillig geduldetes Zubehör der Universität sind. Bei der Besprechung kam natürlich nichts Positives heraus. Es sollen 50 Glaser kommen, die aber nur in heil gebliebene Rahmen Scheiben einsetzen können (meiner Erinnerung nach kamen sie erst nach Wochen) und dann kommen natürlich zuerst die Kliniken dran. Die Hautklinik z.B. hat nach vorn heraus, wo über der Straße ein großer Trichter ist, nicht einen einzigen Fensterrahmen mehr. Was nutzt da der Glaser? Auch die Ohrenklinik sieht bös aus. Aber es sind noch viel mehr Gebäude im Klinikviertel beschädigt.

Über den Studentenführer trage ich noch nach, daß er, wie mir F. und M. mitteilten, während eines Alarmes seinen Posten als Brandwache in der Universität (er war dazu wie wir Professoren und die Beamten und die Studenten eingeteilt) verlassen hat und in den Bunker gegangen ist. So sind diese Herrn, die sich auf Grund ihrer Parteiposten vom Frontdienst drücken! Der Gerechtigkeit halber erwähne ich, daß etwa nach einigen Monaten der Posten des Studentenführers mit einem anderen Herrn besetzt wurde; ob das jedoch eine Maßregelung des damaligen Studentenführers bedeutete, konnte ich nie erfahren.

Der Universitatsoberinspektor T. und der Quästor D. sind vermißt. Um es gleich zu sagen: Ersterer, ein liebenswürdiger alter Herr, unermüdlich im Dienst, wohl über 85 Jahre alt, war unter den ca. 30 Toten im Keller der Schule am Philosophengang. Dieser Keller wurde wegen Überfüllung des dortigen Bunkers mitbenutzt, ein Volltreffer verursachte seinen Einsturz. Bei der Auffindung der Leiche des Quästors in dem getroffenen Teil des Universitätsgebäudes war ich selbst dabei, davon werde ich noch berichten.

Von 12-13 Uhr habe ich mit Lore Wasser im Klinikbunker geholt. Zwischen Chirurgischer Klinik und Pathologischem Institut ist ein nur für das Klinikpersonal und die Klinikpatienten bestimmter Bunker gebaut worden, von der Chirurgischen Klinik aus unterirdisch zugänglich, mit Operationseinrichtung, eigener Heizanlage und eigenem Brunnen, der 100 m tief sein soll. Von diesem kann die Bevölkerung Wasser holen, sogar warmes auch. Man geht eine Treppe tief hinunter und gelangt in einen Raum mit einer komplizierten Heizapparatur, von zahllosen Rohren durchzogen, wie im Innern eine Kriegsschiffes. Aus einem Hahn schießt das Wasser mit starkem Druck hervor. Wir standen eine halbe Stunde Schlange, bis wir drankamen. Das Tragen des Wassers bis in die Hohenbergstraße ist anstrengend. Viele Leute lassen in dem gefüllten Eimer, den sie tragen, ein Brettchen schwimmen, was das Herausschwabbeln des Wassers beim Tragen mildern soll. Zuhause reinigte ich die Abortschüssel und trug den Inhalt auf einem Pappdeckel in den hinteren Garten. Ich erwähne das nur, damit man begreift, daß an solchen Tagen ununterbrochen was zu tun ist.


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Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

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