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Home Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) 27.7.1944: Aufräumungsarbeiten, Laufereien, Durcheinander
 Materialien
 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Tagebüchern
 Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944)

25.7.1944: Rückkehr nach Kiel

Schon in Hamburg hatte ich von den schweren Schäden gehört, die der Terrorangriff vom 24. (früh 1 Uhr) in Kiel verursacht hatte. Ich war auf Böses gefaßt. In Kiel verkehrte keine Straßenbahn, die innere Stadt war noch wegen herumliegender Blindgänger gesperrt; Hauptpostamt und Gauhaus waren schwer getroffen, man ließ uns kaum vorbei. Vor der Universität traf ich F., der mir sagte, daß unsere Wohnung beschädigt sei. Im Klinikviertel begegnete uns B., der mich herzlich begrüßte, weil er mich verletzt in einer Klinik liegend glaubte, irgendeinem Gerücht zufolge. Müde und erhitzt bogen E. und ich schließlich, unser Gepäck in der Hand, von der Kirchenstraße um die Ecke in die Hohenbergstraße ein. Durch die Bäume fiel der erste Blick auf die Südseite des Hauses und die Fenster unserer hinteren Zimmer. Das stand. Vielleicht war es doch nicht so arg. Vor dem Haus trafen wir Käthe. Nun sah ich den Schaden. Die linken zwei Drittel der Hausfront waren eingestürzt, unser Vorderzimmer mit Ausnahme des Musikzimmers und der Vorplatz waren samt dem darüber befindlichen Teil des Speichers und des Daches weggerissen, ebenso im 1. und 2. Stock; in dem Trümmergewirr sah man die schräg herunterhängenden Fußböden; der Schuttkegel aus Mauertrümmern, Holzwerk und Dachfetzen zog sich bis halb in den Vorgarten hinaus.

Käthe hatte gegenüber schräg aufwärts beim Kollegen H. (Nr. 13) Unterkunft gefunden. Es ist das zurückliegende Haus mit dem großen Vorgarten. H.'s selbst waren, weil vorher schon ausgebombt, nur provisorisch in der Wohnung im 1. Stock untergekommen. Sie traten uns ein Zimmer ab, in welchem wir nun alle fünf hausten. Zunächst stellten wir unser Reisegepäck hinein. Nun kam die Frage der Verpflegung. Wenige Häuser aufwärts war (schon seit längerem) ein kleines Gebäude als Hilfsstelle der NSV (Nationalsozialistische Volks-Wohlfahrt) eingerichtet. Dort wurde für Bombenbeschädigte Essen ausgegeben, für eine gewisse Zeit sogar markenfrei. Das Essen kam fertiggekocht in Kesseln von irgendeiner zentralen Kochstelle, die die zahlreichen Ausgabestellen der Stadt versorgten. Oft kam der Wagen mit Verspätung und dann standen die Leute lange vor dem Eingang. Auch zur gewöhnlichen Mittagsstunde bildete sich eine lange Schlange. Die einen, wie wir, aßen im Haus drin, da mußte man warten, bis wieder Sitzplätze frei wurden; die anderen holten das Essen in eigenen Geschirren nach Hause, oft in Eimern für ganze Familien auf einmal. Soweit es von dieser NSV-Stelle abhing, war alles vorzüglich organisiert, der betreffende "Amtswalter" (oder was sonst sein Titel war) war ein tüchtiger, rühriger und stets hilfsbereiter Mann. Im Haus arbeiteten eine Anzahl von Frauen der Nachbarschaft ehrenamtlich. An diesem Dienstag bekamen wir erst gegen 15 Uhr etwas, abends gab es nichts mehr. Doch war am Montag Butter und Brot verteilt worden und davon hatte Käthe noch etwas. Nach einigen Tagen wurde nur noch mittags eine Mahlzeit ausgegeben. Schlimm war es mit den Getränken. Das Wasser des Klinikbunkers war versiegt und die Leute holten Wasser bis vom Feuerwehrhaus am kleinen Kiel! Wir hatten noch vier Flaschen Bier im Keller.

Um 16 Uhr kletterten wir zum ersten Mal in unsere Wohnung hinauf. Die Treppen sind bis oben hinauf so mit Schutt und Brocken bedeckt, daß man von den einzelnen Stufen nichts mehr sieht. Über dem Treppenpodest im 1. Stock ist die Mauer des angrenzenden Zimmers herausgewölbt und droht jeden Moment einzustürzen. Wir schlichen wie die Katzen vorbei. Im 2. Stock ist diese Mauer eingestürzt, das Podest ist hoch mit Sparrenwerk beladen, unter dem man sich vorbeidrücken muß. Genauer: das Podest ist zertrümmert, man steigt von der letzten Stufe unterhalb durch die Luft etwas exponiert übertretend, auf die erste Stufe oberhalb; Treppengeländer ist hier oben keines mehr da. Die beiden Treppen vom 2. zum 3. Stock hängen etwas krumm, aber was so viel Steine trägt, wird das Gewicht eines Menschen auch noch aushalten. Oben hört der Weg mit der letzten Stufe auf, da das Podest des 3. Stockes samt den angrenzenden Räumen herabgestürzt ist. Auch die Gangtüre ist natürlich mit weg, das ist alles freie Luft. Wir müssen also durch das über der letzten Treppenschräge befindliche Fenster vom Treppenhaus in unsere Wohnung steigen. Es ist im dreiteiligen starken eisernen Rahmen ins Mauerwerk eingelassen, das drei dicke Drahtglasscheiben enthält. Ich hätte nie geglaubt, was für ein festes Material das ist. Es kostete erhebliche Mühe, mit Steinbrocken das schmälere rechte Drittel herauszuschlagen, zumal man vom Stand auf der Treppenstufe aus gar nicht hinauflangen konnte. Wir (B. half) bauten aus Ziegelsteinen zunächst über zwei oder drei Stufen hinweg einen Stand, der allerdings recht wacklig war und oft abrutschte; dann mußte man (nachdem einmal das Glas entfernt war) mit einem geschickten Dreh-Schwung zuerst im Sitzen aus das Fensterbrett kommen, wobei die Beine noch nach dem Treppenhaus baumelten; dann hieß es, sich durch die enge Öffnung winden und drüben den Boden erreichen. (Als später auch die mittlere Scheibe herausgeschlagen und die vielen Splitter im Kitt entfernt waren, konnte man den Eisenstab zwischen den beiden rechten Rahmenteilen als Griff benützen und tat sich so erheblich leichter. Das war bis zum Schluß der einzige Zugang zu unserer Wohnung, nur daß später eine kleine Leiter noch weitere Erleichterung verschaffte, die aber stets sehr wackelig auf den aufgeschichteten Ziegelsteinen stand.)


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Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

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