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Home Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) 25.7.1944: Rückkehr nach Kiel 28.7.1944: An der Gepäckaufgabe
 Materialien
 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Tagebüchern
 Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944)

27.7.1944: Aufräumungsarbeiten, Laufereien, Durcheinander

(Donnerstag) 0 Uhr Alarm. Wir waren um 22 Uhr zu Bett gegangen. Ich zog mich im Dunkeln an. Die anderen hatten drüben im zweiten Zimmer Kerzenlicht. Die Hohenbergstraße war wegen Blindgängern gesperrt. Wir eilten durch die dunklen Gärten hinüber zum Bunker. Käthe und ich hatten E. und Ursel an den Händen und trugen je einen Koffer und Rucksack. Lore schläft im Mineralogischen Institut; wir treffen sie natürlich nicht. 0.25 Uhr waren wir auf dem Platz im Bunker, wo das Geschiebe nicht weiter ging. Zum Glück war in dem Gang, in welchem wir heute standen, gute Luft. Gestern Nacht im Stollen 5 war es schlimmer. Die Wandplätze sind längst besetzt. E. sitzt auf irgend einem Rucksack. Ursel hat ihren Schulranzen auf, in dem aller unser Gold ist. So warten wir geduldig stehend, nur Ursel hat immer etwas zu mäkeln und zu wünschen.

Gegen 1.40 Uhr Entwarnung. Es hatte nur in Hamburg einige Bomben gegeben (nach im Bunker durchgegebenen Meldungen); die Westküste war nicht angeflogen worden. In "normalen" Zeiten hätten wir auf Grund der Meldungen des Drahtfunks vielleicht nicht die Wohnung verlassen, jedenfalls ich nicht. Übrigens brannte heute in den Bunkerstollen schwaches Licht (Glühbirnen). Gestern gab es keines. Doch haben noch viele Leute Taschenlampen. (Batterien seit langem nicht mehr käuflich.) Um 2 Uhr waren wir "zuhause".

Seit 6 Uhr bin ich wach. Es sind keine Fensterscheiben in dem Zimmer, in welchem Käthe und ich schlafen, man hört alles herein. Es gab ein Gewitter mit heftigem Regen! Das ist Pech. Die paar tausend Bücher (3000 sollen es von L. sein, ca. 1000 von mir), die zwischen den herabgestürzten Fußböden liegen müssen, werden nun wohl naß. Jetzt, 6.30 Uhr, schreibe ich zum ersten Mal auf. Ich hatte ja in diesen zwei Tagen auch nur ein Papier.

Für 8 Uhr sind fünf Mann von der Marine bestellt, die im Treppenhaus Schutt aufräumen sollten. Das ist überholt, da eine Treppe außen am Haus zum Balkon des 1. Stockes gemacht werden soll, aber ich glaube es nicht (wurde in der Tat nie versucht). Dann sollten vom 1. zum 2. und vom 2. zum 3. Stock innen Löcher geschlagen werden und Leitern daran befestigt werden. (Woher hätte man damals Leitern nehmen sollen!) Hoffentlich arbeiten nun die Marineleute an dem großen Schutthaufen vor dem Hause, worunter sicher noch vieles liegt. Da haben Käthe und ich schon am ersten Tag Papiere und Münzen aus meinem Schreibtisch geborgen.

Im Lauf des Tages (Donnerstag) und den ganzen gestrigen Nachmittag (Mittwoch) haben wir gearbeitet. Vormittags bin ich stundenlang herumgelaufen, um die nötigen Meldungen zu machen und auf dem Wohnungsamt vorzusprechen. Überall muß man lange warten, ich war ganz kaputt. In der Wohnung haben wir das Musikzimmer völlig ausgeräumt und alles ins Wohnzimmer gestellt. Der Flügel ist schon verstimmt und klingt blechern. Die große Schiebetür zwischen Musik- und meinem Arbeitszimmer ist weg (abgestürzt), da geht es ins Freie. Das muß "einmal" mit Brettern vernagelt werden. Ob aber nicht von oben alles naß werden wird? Ich bin auch einmal auf den Dachboden geklettert, kann mich aber nicht erinnern, wie weit das Dach noch vorhanden ist. An der Vorderseite sind alle Schieferplatten herabgeworfen, da ist es ganz aufgerissen.

Nun hatten wir vorgestern (Di.) als erstes (B. und ich) das große Sofa des Wohnzimmers abgeseilt (vom hinteren Balkon), mit meinem guten 30 m-Seil, und zu H.'s herübergetragen. Ich schlafe drauf, aber nicht gut. Und viel Bettzeug haben wir hier. Dann haben wir gestern und vorgestern noch waschkorbweise von unserer Habe, was am nötigsten schien, abgeseilt und in den Keller gebracht. Aber wir wissen gar nicht, wie wir es einteilen sollen. Der hintere Teil der Wohnung wäre ja, abgesehen von den Fensterstöcken, erhalten und die Möbel müssen da drin vielleicht für Jahre stehen bleiben, da an ein Abseilen schwer zu denken ist, und wir wüßten vor allem gar nicht, wohin damit.

Die Abortverhältnisse sind schlimm, da es in der ganzen Straße kein Wasser gibt. Ich gehe meist in den Martiusgarten zu einem Abend- und Frühspaziergang (dies die ganzen vier Wochen lang). Wenn es jetzt Winter wäre!

Todmüde von der Plackerei, ohne Fensterscheiben, der Boden weit herein naß, sitzen wir im Zimmer und draußen rauscht es herunter. Wir sind naß, nasse Kleider hängen umeinander und trocknen nicht. Wenn heute Nacht Alarm kommt, wird es sehr unangenehm werden. Im Bunker soll das Wasser schuhhoch stehen. Es wurde bekanntgegeben, daß man ohne Strümpfe kommen soll. Aber ich kann mir nicht denken, daß bei solchem Wetter angegriffen werden würde; Alarm kann jedoch leicht kommen, wenn nur ein Störflugzeug in die Nähe kommt. Gestern Nacht sollen Bomben auf Hamburg gefallen sein.

Vormittags mußte Käthe wieder in die Hardenbergstraße laufen wegen Bezugsscheinen. Sie bekam einen für Schuhe und einen für einen Hut. Sie kam nach zwei Stunden patschnaß zurück, so war sie wieder in den Regen gekommen. Ihre Sachen sind jetzt noch nicht trocken. Ich bin Vormittags in die Wohnung gegangen. Es war sehr niederdrückend, alles naß. In dem nach vorn völlig offenen Gang war das Wasser nach hinten gelaufen. Der Schlafzimmerboden voller Wasser. Käthe hat später mit Eimer und Scheuertuch das meiste aufgetunkt. Das Musikzimmer natürlich unter Wasser von oben und den Seiten. Die ganze Decke des Schlafzimmers ist voller Wasserflecken, wo es durchgelaufen ist. Die bestellten Soldaten waren gegen 9 Uhr gekommen. Sie wollten nicht recht anpacken. Vier waren es. Vor dem Haus, in dem Schuttsturz, wollten sie (trotz einer Regenpause) nicht arbeiten, weil oben Mauertrümmer einsturzdrohend aussahen. Auch an die Aufräumung der Treppen gingen sie sehr ungern heran. Erst allmählich gewöhnten sie sich an die vorhängende ausgebauchte Wandstelle. Sie reinigten den größten Teil der Treppen von Schutt und Ziegeln, nur die ganz großen Trümmer konnten sie nicht fortbringen. Man muß immer über die großen Platten steigen. Ich hatte vormittags noch ziemlich Bedenken gegen die Treppe, nach der Aufräumung sah sie mir etwas verlässiger aus. Wir haben weiter geräumt. Das Schlafzimmer ist jetzt ganz ausgeräumt, die Betten zerlegt, die Matratzen aufeinandergestapelt, alles in den hinteren Zimmern. Nur die beiden großen Schränke stehen seitwärts im Zimmer, wo es trockener ist. Die Soldaten haben das alte Büffet, das noch außen auf einem stehengebliebenen Streifen des herabgestürzten Fußbodens stand, hereingezogen ins Wohnzimmer.

Ich kann keine Minute schreiben, ohne unterbrochen zu werden. Am Schluß gab ich den Soldaten Spielsachen für ihre Kinder. Da stehen noch Puppenküche und Puppenstuben in der öden Wirrnis, alles durcheinander, voller Staub und Schuttbrocken; an der Wand des Kinderzimmers rinnt schon das Wasser herunter. Wir hatten noch alle Winter- und Doppelfenster eingehängt, damit es nicht so sehr hereinregnen sollte. Aber es regnete wieder durch das Loch, welches neulich die Brandbombe geschlagen hat, den halben Küchenboden voll. Nachmittags und abends hat es wieder geschüttet. So schwere Regentage gibt es kaum zweimal im ganzen Jahr in Kiel. Das ist schon elendes Pech. Zum ersten Mal kamen mir Tränen in die Augen, als einer der Soldaten die netten weißen Kindermöbel, Tisch, Bank und zwei Stühle, sehr solide gearbeitet, in einen Karton packte. Ich gab ihnen noch verschiedene Bilderbücher. Einer nahm ein Busch-Album mit.

Jetzt abends in unserem Zimmer steht und liegt alles durcheinander. Die Kinder bekommen noch gestrichene Brote. Ich selbst habe genug von dem Essen im NSV-Heim. Mittags habe ich gar nicht gegessen, da hat mir Käthe bei Frau B. die fünf eingeschlagenen Eier gekocht. Nachmittags tranken wir, auch bei Frau B., einen starken Kaffee von den zugeteilten Bohnen. Käthe hat ihn zu stark gemacht und fühlte sich ganz schlecht statt besser heute Abend. Sie hat den ganzen Nachmittag in unserem Keller bei einer Kerze Koffer gepackt und Sachen geordnet. Jetzt sind auch unsere Teppiche zusammengerollt abgeseilt worden und in den vorderen Keller gelegt. Das kann doch nicht alles so bleiben! Ich bin ganz benommen und weiß nicht, wie das werden soll. Und der furchtbare Schmutz infolge des Regens!

Aber ich muß mir sagen, daß dies alles ja erst der Anfang unserer Kriegs-Leiden ist. Es wird uns noch viel mehr bevorstehen. Vielleicht ist man doch dann am befreitesten, wenn man gar nichts mehr hat. Was für eine Last, Sorge und unendliche Arbeit ist nur die Erhaltung der Habe! Schon früher hat es mich oft beschämt, ein wie großer Teil der Zeit auf die Bewahrung der irdischen Habe verwendet werden mußte. Und jetzt ist es unsere ausschließliche Arbeit. Da hat es Frau R. fast besser: völlig abgebrannt und fast nichts gerettet. Wir aber stehen mit vielen Koffern und Körben voll Gegenständen da, die vor unseren Augen verrotten, und wir wissen nicht, wohin damit.

Scheußlich hat sich der Kollege B. benommen. Ein Zimmer im Mineralogischen Institut, das noch vom Historischen Seminar zur Belegung vorgemerkt ist, will mir Kollege L. geben, aber Prof. B. will nicht darauf verzichten, obwohl in dem Zimmer fast nichts drin ist, weil er es im nächsten Semester (!) als Arbeitsraum für seine Studenten einrichten will. Und für uns wäre es doch nur vorübergehend. Und als ob überhaupt noch an ein nächstes Semester gedacht werden könnte! Das ist doch endgültig aus. Eine Universität Kiel gibt es nicht mehr. Nun sind lediglich noch ein paar medizinische Institute da, die einen kleinen Betrieb haben. Man redet von Verlagerung der Universität nach Schleswig, wo eine große Irrenanstalt zur Verfügung gestellt werden soll. Da würden doch die Engländer nach Eröffnung des Betriebes auch ein paar Bomben hineinwerfen. Und wie sollten dort Lehrer und Studenten, falls es noch solche gäbe, untergebracht werden? Wie sollte dort gearbeitet werden? Laboratorium, Instrumente? Man kann das doch nicht in einigen Wochen, selbst Monaten machen. Woher Bücher? Ich kann mir nicht einmal meine eigene nähere Zukunft vorstellen. Nur das eine, daß, sowenig Käthe und ich es wollen, schließlich doch nichts anderes als Hof für meine Familie übrigbleiben wird.

Nun haben wir alles für die Nacht hergerichtet. Alles muß bereit liegen. Der Himmel hat sich jetzt gegen 22 Uhr aufgehellt. Schließlich war der schwere Regentag (nicht zwei, wie ich vorhin irrtümlich geschrieben habe) von 4-21 Uhr, doch nur eine lokale Erscheinung, und ein Alarm kann ebenso gut wie sonst kommen. Mein altes schönes Taschenmesser ist weg. Das ist keine Kleinigkeit, es ist heute unersetzlich. Mein Schirm ist mit dem Vorsaal abgestürzt, B. die Kleiderbürste in M.'s Schlafzimmer.


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Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

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