[Materialien-Startseite] [Impressum] [Kontakt]
Home Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) 15. bis 25.8.1944: Schlaglichter 29.8.1944: Verpackung und Abtransport der übriggebliebenen Habe
 Materialien
 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Tagebüchern
 Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944)

28.8.1944: Nach dem großen Brandbombenangriff

Anmerkung: Der in wochenlanger Arbeit gerettete Hausrat verbrannte bei einem großen Brandbombenangriff am 26.8.1944 (hierzu gibt es keine Tagebuchaufzeichnungen); der erwartete Möbelwagen war nicht gekommen.

Vormittags. Unsere ganze Sorge und Tätigkeit gilt nach wie vor der Erhaltung des Restes unserer Habe, sonst könnten wir abfahren. In dem halb zerfallenen Haus, ohne Fenster und Türen, haben heute Nacht gegen 40 Menschen geschlafen, fast alle auf dem Fußboden der Eingangshalle und des Kellergeschosses. Noch als ich um 9 Uhr mein Fahrrad aus einer dunklen Ecke hervorzog, stolperte ich über auf Matratzen Schlafende. Viele haben im Freien geschlafen; in dem großen Martiuspark waren überall kleine Lager von Hausrat und Schläfer auf Matratzen und Decken. Um 7 Uhr zog ich mich ins Gebüsch zurück und schaute auf den Stapel unserer Kisten und Körbe. Wer wird das je wegbringen?

Frühstück: Etwas Tee von meinem Eisernen Vorrat und Brot mit reichlich Butter und Streichwurst, was gestern Abend durch die NSV auf der Hohenbergstraße verteilt worden war. Lores Fahrrad ohne Luft. Von meinem "Fluchtkoffer", der immer mit in den Bunker muß, hatte ich gestern den Schlüssel verloren. B. hat den Koffer geöffnet, nachdem ich eine Stunde gewartet hatte. Jetzt haben wir wenigstens eine Nacht geschlafen. Ich habe etwas Herzbeschwerden. Nun bin ich mit dem Fahrrad unterwegs zu O. Mitten auf dem Bahnhofsplatz, auf den Schienen der Straßenbahn, hat jemand seine Habe aufgebaut: Tische, Matratzen, Nähmaschinen usw. Ich bekam die vorher bestellten Fahrscheine. Bei der Gepäckaufgabestelle ist es merkwürdigerweise völlig leer. Vor dem Bahnhof Lautsprecherwagen: die Bevölkerung wird aufgefordert, Kiel zu verlassen; alle Schulen geschlossen; nur behelfsmäßige Bedienung der Sirenen; und noch anderes (der nächste Sonderzug wird um so und so viel Uhr fahren). Man kommt wegen des Schuttes mit dem Fahrrad immer nur ein Stück weiter. Überall raucht es noch. Heute Nacht war nur kurz Alarm (23-24 Uhr), der Bunker war nicht mehr so gedrängt voll, es haben schon viele Kiel verlassen. 100.000 Brandbomben, 10.000 Sprengbomben und 300 Luftminen sollen es am Samstag Abend gewesen sein.

Montag abends, 21 Uhr. An diesem Vormittag hatte ich nach längeren nutzlosen Irrfahrten zum Güterbahnhof, Hauptbahnhof, Rathaus usw. das Glück, an die Soforthilfestelle der NSKK gewiesen zu werden und dort meinen früheren Sturmführer zu treffen. Ich erhielt die Zusage, daß morgen früh um 8 Uhr ein Ein-Tonner kommen werde, um die Sachen zum Bahnhof oder Güterbahnhof zu fahren. Nun haben wir den ganzen Nachmittag fieberhaft gepackt. Zuerst hatte ich noch eine Stunde Hilfe von zwei 17jährigen Arbeitsdienstlern, die mir (ebenfalls nach vielen erfolglosem Herumfragen) ein Unterfeldmeister zur Verfügung stellte, der mit seinen Leuten die Straßen in der Nähe von Christiani- und Gerhardstraße aufräumte. Dort sieht es furchtbar aus: kein unzerstörtes Haus, alles heruntergebrannt, ragende Mauern in Schuttfeldern, aus denen es noch überall raucht. Ich konnte die Viertelstunde, die ich warten mußte, kaum aushalten in dem drückenden Rauchen und dem wehenden Staub an einem dieser Trümmerfelder. Durch eine andere Straße kam ich, da waren auf beiden Seiten die drei- oder vierstöckigen Häuser vorne aufgerissen und von beiden Seiten ging der Schutt bis in die Straßenmitte, in welcher ein schmaler Pfad ausgeschaufelt war.

Die beiden Jungen trugen nur Kisten und gefüllte Wannen vom Martiuspark in unsere Unterkunft. Dort ging es wahnsinnig zu. Prof. G. war da und ließ mit Tischen (sic!) und Schranktüren die Fenster notdürftig zunageln (natürlich sind noch weite Lücken da). Unten liegen noch alle möglichen Leute herum. B. ist der geplagteste Mann, weil jeder jeden Moment etwas von ihm will oder erfragt. Gegen 16 Uhr wurde sehr plötzlich der Himmel schwarz und es brauste eine Art Windhose von Westen her über uns weg, daß einem unheimlich werden konnte. Wir hatten gerade vorher vier Betten, einige Kissen und Decken von unserem Stapelplatz auf die große Wiese zum Trocknen hingelegt. Es kam so plötzlich, daß ich nur gerade noch hin eilen und die vier Betten ergreifen, um mich herumschlingen, zum Teil nachschleifen konnte. Auf der Hohenbergstraße draußen hätte mich der Sturm fast umgeweht, von der Westseite her prasselte von den Giebeln der ausgebrannten Ruinen der Schutt bis in die Mitte der Straße, sodaß ich die kurze Strecke vom Tor bis zum Eingang des Geologischen meinen Kopf mit den Kissen umhüllte. Es sind in diesen paar Minuten mehrere Häuser eingestürzt und Straßen neu verschüttet worden. Dazu ein Platzregen. Und die armen Menschen, die noch im Martiuspark mit ihren geretteten Sachen kampieren!

Wir haben jetzt hier den sog. Schiffskoffer, eine Bierkiste mit 16 Bänden des Brockhaus, zwei meiner schöneren Bücherkisten (Inhalt?), die schwarze Kiste, welche Lore mit ihren Büchern vollgepackt hat (ich kann sie nicht alleine heben!), vier Wannen (drei größere, eine kleinere), mit Weckgläsern und Küchengeräten gefüllt, nur oben mit einem Tuch verhüllt und mit Schnur umwunden. Das soll alles als Frachtgut abgehen. Falls wir überhaupt Genehmigung bekommen, es ist riskant, mit all dem Zeug gleich zum Güterbahnhof zu fahren. Dann kommt als Reisegepäck der Schiffskoffer, ein Dutzend Pakete (sieben sind erst fertig), und dann steht noch so viel herum; das Bedabild von Venedig und das kleine Falkenstein-Bild sind die einzigen geretteten Bilder. Eine kleine, aber schwere Kiste mit den kleinformatigen Noten ist gerettet (die hatte Lore aus dem Keller geschleppt), alle (?) Steinbaukästen der Kinder sind da, die ich extra aus dem Keller mitgenommen hatte. Eines der Pakete ist die zerbrochene Küchenuhr, ein Herzenswunsch von Ursi, daß wir sie ihr mitbringen sollten. Mein 30 m-Seil, Käthes ganzes Wäscheseil haben wir noch; wir haben es zerschnitten und mit den Stücken die Wannen verschnürt. Papier für die Pakete haben wir nicht, nur alte Kartons. Welche Mühe macht es, ein Stück Draht zu finden, um diejenigen Kisten zu schließen, welche eigentlich Vorhängeschlösser haben sollten. Da muß ich B. fragen, in seiner Küche herumsuchen, muß eine Zange suchen, um den Draht biegen zu können. Dann suche ich Kistennägel und so geht es ewig weiter. Da steht die schwere Rechenmaschine herum, ich weiß nicht, wie sie verpacken. Wie soll ich die fünf übrigen Brockhausbände unterbringen? Dazu noch ein Band der Propyläen-Weltgeschichte und Lores großes schweres Briefmarkenalbum. Manches werden wir hierlassen müssen. (Ich erinnere mich an einen Papierkorb aus braunem Holz in einem Erdgeschoßraum, der mit Sachen von uns angefüllt und noch in den letzten Stunden vergebens von mir gesucht wurde.) Ich will zufrieden sein, wenn morgen wenigstens ein Teil der Sachen aus dem Hause kommt. Man hat keine Ruhe mehr, ist wie vorher immer noch der Sklave seiner Habe, wenn es nur noch dieser kleine Teil ist. Das Schreiben all der Gepäckzettel, das Aufkleben und Aufnageln von Adressen, überall fehlt es an den nötigsten Hilfsmitteln wie Leim, Nägel, Schnur und dergleichen.

Während ich dies schreibe, weht der Wind die vor mir liegenden Zettel immer wieder weg. Es gibt ja keinen Ort im Hause, wo es nicht zieht. Mit Mühe haben wir Lores Tür wieder in die Angeln gehängt; sie schließt zwar nicht ganz und das Fenster fehlt ganz. Eine Seite davon habe ich mit Pappe vernagelt, das Oberlicht ist ganz offen. Als es heute nachmittag regnete, tropfte es bei uns gleich durch die Zimmerdecke auf Käthes Bett. Dazu scheußlicher Durst. Wir hatten nur noch einen halben Eimer Wasser, das wir gestern Abend im Klinikbunker geholt hatten. Abends holten Lore und ich wieder Wasser, Käthe ging zur Essensausgabe der NSV in der Medizinischen Klinik. Da standen 100 Schlange und sie mußte 1 1/2 Stunden warten, bekam dann Brot, Butter und Wurst für uns drei. Ich kam hin, bekam gleich Suppe, aß zwei Teller, traf einen Bekannten, ging heim – und immer noch wartete Käthe (die ich aber nicht sah). Ich schleppte noch das Kistchen mit den Noten unten ins Haus, es muß 30 kg wiegen (?). Im Haus liegen überall schon Leute herum, ich tappe im Dunkeln dazwischen her. Ich bin schmutzig, aber mit Wasser muß gespart werden.

Heute habe ich den Mineneinschlag in P.'s Garten angesehen. Von dem Historischen Seminar, das doch nach seinem Ausbrennen eine sehr stattliche Ruine war, sieht man auch nicht eine Grundlinie mehr. Alles ein Schuttfeld. Diese Mine war es auch, die das Geologische Institut so durchgeblasen und durchgerüttelt hat. Überall liegen Kasten und Bücher herum und man tritt drauf. Wahllos nimmt man Bretter weg und wirft dabei die Bücher herunter. Ich weiß gar nicht, was ich alles zusammenkritzle, immerwährend kommt was dazwischen. Nur von Packen und den Kisten wird geredet. Wir wissen nichts von der Außenwelt. Heute wird erzählt, die Engländer seien in Belgien "einmarschiert". Ich kann mir das nicht erklären und niemand weiß Genaueres. Die Abortverhältnisse werden schwieriger. Jetzt müssen sogar die Frauen ins Gebüsch gehen. Den beiden Arbeitsmännern habe ich Essen und Wasser angeboten. Wir haben nur ein Glas für uns samt unseren Gästen. Keine Suppenteller. Als ich in der Wohnung oben war (während des Brandes), hatte ich in der Hetze nur flache Teller in den Rucksack getan... Die Hauptsache, den großen Angriff und den darauf folgenden schlimmen Sonntag, habe noch gar nicht notiert und werde wohl vieles vergessen haben, wenn ich dazu komme.

Mein Schneidergeschäft Robrecht ist ausgebrannt, mein Anzugstoff verloren. Die Buchbinderei ist ausgebrannt, meine dort befindlichen Bücher verloren. Laut Zeitung gibt es Sonderzuteilungen, aber vom Bahnhof durch die ganze Stadt hierher weiß ich kein einziges Geschäft, das geöffnet wäre. Wo also soll man es kaufen?

Jetzt bei Dunkelheit sieht man in vielen Häusern unten in den Kellern die Kohlenhaufen brennen. Auch der große Kohlenhaufen vor unserem Fenster, überm Weg drüben, glüht noch.

Und dann half uns Prof. H. Er hatte einen Wagen vom NSKK bekommen und den schickte er zu uns. Sofort aufgepackt (auf zwei Fuhren verteilt), zum Güterbahnhof gerasselt; die Fracht wurde gleich genehmigt; diese Hälfte ausgeladen, die beiden schweren (schwer gefüllten) Schränke, die Couch, die Waschmaschine, die große Bettkiste, fünf andere Kisten und noch viel mehr. Überall packte der die Fahrt leitende NSKK-Mann kräftig mit zu. Ohne O. und ein paar ausländische Arbeiter, die im Geologischen Institut zum Dachdecken waren, hätten wir es nicht so leicht aufgeladen. Dann zurück und sofort die andere Hälfte, bei der auch 14 Gepäckstücke waren, aufgeladen. Nun auch Käthe mit drauf wegen des Gepäckes, und los! Am Bahnhof ausgeladen, die 14 Gepäckstücke herunter und vor der Gepäckannahme aufgebaut. Es waren drei Matratzenkolli dabei. Da kam Alarm! 16 Uhr. Es war sogleich dick vernebelt. Wir mußten das Gepäck einfach stehen lassen, Käthe mußte in den Bahnhofsbunker, die Beamten waren sofort verschwunden.

Aber zum Glück waren die Leute des Wagens anderer Gemütsart. Wir fuhren unseren Kram noch bis zum Güterbahnhof hinaus, der schon leer und verlassen war, und luden noch ab (mein Fahrrad lag mit auf dem Wagen). Gleich in der Nähe ist ein schöner Hochbunker. Was die Leute des Wagens gemacht haben, weiß ich nicht. Fahren durften sie wohl nicht. Jedenfalls gingen in der Nähe des Güterbahnhofs viele Bomben nieder, der Gaskessel wurde getroffen und gab noch stundenlang von seiner oberen Plattform aus (so sah es aus) dicken Rauch von sich, der sich weit über die Stadt hinzog. Und die Alte Lübecker Chaussee, durch die unser Weg führte, wurde schwer getroffen, Dutzende von Häusern sind unbewohnbar geworden. Auf der Straße ein großer Trichter, aus dem das Wasserleitungswasser in dickem Strom quillt. Doch ich habe vorgegriffen.

Ich fuhr vom Güterbahnhof bei leisem Regen mit dem Rad doch noch bis zum Hauptbahnhof, um nach der Entwarnung gleich bei dem aufgestapelten Gepäck sein zu können. (Die Straßen waren schon völlig menschenleer und ich weiß noch, daß ich viel auf den Gehsteigen gefahren bin, was ein rascheres Fahren ermöglichte als auf der stets schuttbedeckten Straße.) Der Gepäckhaufen stand noch unversehrt da. Zuerst blieb ich in der menschenleeren Halle beim Gepäck. Dann begann es aber zu schießen, es kam also ein Angriff. Der Bahnhofsbunker war überfüllt, ich wäre nicht durch die Tür gekommen. Etwa 200 Leute wurden in den Gang gewiesen, der sich von der Gepäckannahmestelle unter dem Bahnhof durchzieht. Der Gang ist zwar mit Eisenbalken gedeckt (durch ihn wird das Gepäck zu den Zügen befördert), sein Boden liegt aber in Höhe der ebenen Erde des Bahnhofsplatzes, und ich fühlte mich nicht recht wohl, als man die Bomben rauschen hörte. Mehrere Angriffswellen mußten wir überstehen und ich machte mir Vorwürfe, nicht in einen Bunker gegangen zu sein. (Allerdings hatte ich um diese Tageszeit noch keinen größeren Angriff erlebt und deshalb an nichts Ernsteres geglaubt.) Aber es ging wieder einmal glücklich vorüber. (Ich erinnere mich, die zwei oder drei Männer beneidet zu haben, welche sich in den ca. 20 cm tiefen Raum vor einer kleinen verschlossenen Seitentür hineingelehnt hatten, und drückte mich eng an sie, um im Falle des Einbrechens unseres Raumes vielleicht doch etwas Schutz vor den herabkommenden Massen zu haben. Die erwähnten Eisenbalken hatten ziemlich weite Zwischenräume.) Nach der Vor-Entwarnung stürzte ich sofort zum Gepäck und wunderte mich, daß Käthe trotz ihres Eingekeiltseins im Bahnhofsbunker auch gleich zur Stelle war. (Wir hatten übrigens immer schon das Prinzip, möglichst getrennt unterzustehen, damit im Fall eines Unglücks womöglich ein Elternteil verschont bliebe.)

Nun wieder hinausgeradelt zum Güterbahnhof. Da kam ich an all den neuen Zerstörungen vorbei, mußte oft wegen Verschüttungen absteigen. An der einen Einschlagstelle war die ganze Straße ein breiter Bach. Auf dem Güterbahnhof hatte ich eine halbe Stunde mit dem Herrichten all der Anhängezettel zu tun, dann sollte nicht mehr eingeladen werden. Mit guten Worten erreichte ich es, nachdem ich mich erbeten hatte zu helfen. (Es war nämlich schon über 18 Uhr.) Ein polnischer Arbeiter machte es. Er war sehr unfreundlich (Gott, wie mögen uns diese Leute hassen!), ich wollte ihm einen Fünfmarkschein geben, er wies ihn brüsk zurück mit den Worten "ich habe genug Geld". Von solchen wird jeder Tausende von Deutschen ermorden, wenn es so weit ist. Das hat die SS auf dem Gewissen!

Todmüde und naß vom Regen (ich war ohne Hut und Überrock) kam ich gegen 20 Uhr zurück. In der NSV-Ausgabestelle noch zwei Teller mäßiger Gemüsesuppe. Dann ließ ich Lore den schweren Blockhandwagen der Universität zurückbringen, den ich mittags schwitzend heraufgezogen hatte (er stand noch in dem ausgebrannten Hauptgebäude), um darin Handgepäck zum Bahnhof zu fahren. Das wäre furchtbar gewesen! Wir hätten drei- bis viermal damit fahren müssen. Es wäre also gar nicht zu machen gewesen.


Copyright © http://www.ahnendaten.de/materialien/
Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

Home Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) 15. bis 25.8.1944: Schlaglichter 29.8.1944: Verpackung und Abtransport der übriggebliebenen Habe